Übersteigerte Erwartungen belasten den Sex

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Tages Anzeiger

20. Januar 2007

Die Sexualität wird nach der Geburt eines Kindes anders. Sexualtherapeutin Kristina Pfister sprach gestern über dieses heikle Thema.

Mit Kristina Pfister1 sprach Manuela Moser

Frau Pfister, belastet eine Geburt die Sexualität eines Paares tatsächlich nachhaltig?

Die Geburt eines Kindes bringt starke Veränderungen auf allen Ebenen. Sie bringt einiges durcheinander, selbstverständlich auch die Sexualität. Was als Belastung erscheint, kann aber durchaus eine Bereicherung sein.

Was verändert sich denn?

Bei der Frau rein körperlich viel: Beispielsweise Narben, ein zu verheilender Dammschnitt, Gebärmutter und Vagina, die sich zurückbilden müssen. Dann neue Empfindlichkeiten der Brüste. Und eine vermehrte Ausschüttung von Dopamin, einem Hormon, das das Gefühl von Fürsorge verstärkt.

Hat das Einfluss auf die Sexualität?

Ja, mit dieser Hormonausschüttung kann sich das Wesen der Frau verändern.. Sie sieht sich vorwiegend nicht als Liebhaberin oder sexuelles Wesen, sondern in den Vordergrund tritt nun das Mütterliche. Für die erste Zeit nach der Geburt ist das natürlich. Tritt die Liebhaberin – ich mag das Wort Liebnehmerin besser – aber zu weit in den Hintergrund, kann dies die Paarbeziehung belasten.

Wann nach der Geburt soll man sich wieder auf die Suche nach dieser «Liebhaberin» machen?

Der Frauenarzt rät aus rein körperlichen Gründen, nach der Geburt mindestens vier bis sechs Wochen mit dem Geschlechtsverkehr zu warten. Grundsätzlich ist das Gefühl wichtig, das sagt: Jetzt stimmt es wieder.

Wie sind da Ihre Erfahrungen in der Praxis?

Das Spektrum ist breit. Es gibt Frauen, die haben schnell wieder Lust. Ein grösserer Teil erlebt nach der Geburt aber eine neue, andere Lust. Diese zeigt sich häufig nicht mehr in ihrer aktiven Form.

Das tönt ja schrecklich und problematisch für beide.

Wieso? Im Kopf werten wir ständig, und das ist das wahre Problem! Wir denken, aktive Lust sei gut, passive gebe es nicht. Das stimmt so nicht. Die Lust der Frau ist ja nicht weg. Sie braucht mehr Atmosphäre und mehr Zeit, um sich zu entfalten.

Kommen wir auf die Rolle des Mannes zu sprechen. Wie geht es ihm nach der Geburt?

Rein körperlich hat sich bei ihm nichts verändert. Wichtig für ihn ist es, diese neue Passivität der Frau zu verstehen: Dass sie nicht gegen ihn gerichtet ist, und dass sie nicht meint: Ich liebe dich nicht mehr. Dann kann er auch entsprechend damit umgehen.

Wie?

Er soll daran glauben, dass die Lust der Frau nicht wirklich weg ist. Er soll anders auf sie zuzugehen: charmant, selbstbewusst, mit wohl dosierter Leidenschaft.

Wohldosierte Leidenschaft?

Ja, eine, die das Gegenüber nicht überfällt, sondern ihm Zeit lässt.

Ist das alles, was für Männer nach der Geburt wichtig ist?

Manche Männer fühlen sich nach der Geburt verdrängt durch das Baby. Einige geraten womöglich in eine Identitätskrise: Das von ihnen begehrte Objekt – die Frau – ist Mutter geworden. Die Beziehung zur Mutter ist aber nicht sexuell besetzt. Das kann ihn irritieren und sein Begehren beeinflussen.

Das Chaos ist perfekt. Mann und Frau stecken in einer Paarkrise. Wie finden sie da wieder hinaus?

Jede Veränderung birgt immer auch Chancen. Zuerst zur Frau: Durch Schwangerschaft und Geburt hat sie viel in sich hineingespürt, ist sich ihres Körpers sehr bewusst geworden. Viele Frauen werden überhaupt erst durch ein Kind auf ihre Geschlechtsorgane aufmerksam. Ein Bewusstsein seines eigenen Körpers ist das Herzstück für eine erfüllte Sexualität.

Und die Männer?

Das Baby berührt sie im besten Fall tief in ihrem Herzen. Viele Männer entdecken neue Gefühle und lernen dadurch auch in der Sexualität neue, feinere Facetten kennen. Die Sexualität der Männer kann nach der Geburt also vielfältiger werden.

Leben wir nicht in einer übererotisierten Gesellschaft und meinen, ständig Sex haben zu müssen?

Ja, absolut. Wir richten uns zu stark nach Normen. Was befriedigender Sex ist, lassen wir uns von der Werbung und vom Kino vorschreiben. Das ist gefährlich, denn übersteigerte Erwartungen belasten unser Sexleben. Zu mir kommen besonders viele Frauen, die glauben, sexuell initiativ sein zu müssen obwohl ihnen überhaupt nicht danach ist.

Wie wichtig ist Sex für eine Beziehung?

Liebe braucht keinen Sex. Dennoch können sexuelle Disharmonien die Beziehung belasten. Doch auch eine halb gelungene Sexualität ist eine gute Sexualität.

Was ist der Schlüssel zu einer entspannten Sexualität?

Man soll die Brücke der Intimität nicht abbrechen lassen, in Körperkontakt bleiben, Offenheit und Achtsamkeit pflegen. Und vor allem nicht meinen, dass bei andern Paaren alles perfekt läuft.

Was lernt man an Ihren Sexualitätsseminaren?

Dass die Partnerschaft vor der Elternschaft kommt. Sie ist die tragende Stütze einer Familie. Auch für das Kind ist es wohltuend, wenn die Eltern sich gut verstehen und sich immer wieder Zeit für Liebe und Paarsein schenken.

  1. Kristina Pfister ist diplomierte Sozialökonomin und Sexualtherapeutin mit eigener Praxis in Bülach und Winterthur. Sie leitet Seminare rund um Sexualität und Liebe. ↩︎