Zeitschrift SPUREN Nr. 80
21. Juni 2006
Gedanken auf dem Pfad der Nacktheit und Liebe.
Wer nackt im Bett liegt, zeigt sich ganz. Stimmt das wirklich? Zeigen wir auch das, was wir versteckt halten wollen? Beispielsweise die Angst, nicht zu genügen, nicht genug Lust zu haben oder einfach lustlos zu sein.
Mit Lust kleidet man sich gerne. Lust gibt Sicherheit. Dieses Etwas, das so leicht zwischen mir und meinem Partner vermittelt. Ihr Fehlen macht nackt und mittellos. Ohne Lust ist man nackt. Nackter als nackt. Wenn da noch nicht mal Lust ist, was bedeckt dann die Scham? Wenn „nichts läuft“, fühlt man sich schnell mal unsicher und hilflos. Das scheint vielen ein so entsetzlicher Zustand zu sein, dass sie alles unternehmen, um das ja zu vermeiden.
Lust ist ein köstliches Spielzeug. Aber können wir auch begreifen, dass wir mit Lustlos-Sein dem Partner näher sein können, als wenn da Lust ist? Das geht fast nicht in unsere Köpfe rein. Lust ist IN. Überall. Für Lustlose gibt es Therapie. Die Medizin hat sogar einen Namen: Appetenzstörung, Libidomangel und geht von einer „Sexuellen Dysfunktion“ aus. Die müssen doch Recht haben. Lust ist normal. Unlust ist nicht normal. Das sagt das Denken. Das sagen die Experten. Welche Experten?
Was ist wahr? Was ist meine Wahrheit? Eine Wahrheit ist, dass Unlust zur Liebe führt. Konsequent. Konsequenter, als es die Lust tut. Wenn man dieses Lust-Los genauer betrachtet, ist es eine Form von Stille. Wenn nichts mehr zwischen mir und meinem Partner steht – noch nicht mal die Lust?! Zwei Körper: lustlos, leidenschaftslos, nackt, still; im Zustand wunschlosen Gewahrseins; im unmittelbaren, direkten Kontakt miteinander.
Der Geschlechtstrieb ist individuell verschieden und somit eine mehr oder weniger gegebene Grösse. Also geht es in erster Linie ums Annehmen und Aussöhnen. Solange man nicht sein persönliches Trieblevel vollumfänglich annimmt und Gedanken über Mangel, Defizit, Störung oder Minderwert radikal ausmistet, sitzt man in der Falle. Weil man sich so ablehnt. Das ist das Kernproblem und nicht die Unlust als solche. Sexuelle Empfindungsfähigkeit ist lernbar, aber Versuche, die „Schwäche“ Unlust loszuwerden, müssen scheitern. Unlust ist keine Schwäche. In dem Mass, wie dieses Sich-anders-haben-wollen aufhört und Konzepte wie Lust, Begehren oder Erregungsverlauf sein sollten, kontinuierlich wegfallen, wächst die weibliche Qualität des Entstehenlassens der Körperliebe und natürlich wird man dadurch auch offener für seine Lust.
Unlust eine Lehrmeisterin der Liebe? Ist das nicht ein genialer Schachzug des Lebens? Was bleibt, ist Stille und Liebe. So oder so.
– Kristina Pfister