swissmom Interwiev
November 2006
Wenn das Mütterliche das Sexuelle verdrängt.
Die Chancen der Männer.
Wenn ein Liebespaar zum Elternpaar wird: Interview mit der Elternbildnerin und Sexualtherapeutin Kristina Pfister
swissmom: Mit der Geburt eines Kindes wird im bildlichen Sinn der Akt der Liebe eines Paares vollendet. Die grosse Freude über das neu entstandene Leben verändert die Liebesbeziehung eines Paares, insbesondere auch die sexuelle Beziehung. Können Sie aus Ihrer Erfahrung mit Paarbeziehungen die Veränderungen beschreiben?
Kristina Pfister: Wenn ein Paar zum Elternpaar wird, muss es eine Vielzahl von Hürden gleichzeitig meistern. Auch die Sexualität kann zu einer Hürde werden. Etwa ein Drittel der Paare finden 6 bis12 Monate nach einer Geburt wieder zurück zur gewohnten Sexualität. Bei einem Drittel geht es soso lala und beim letzten Drittel ist die intime Beziehung ziemlich ins Stocken geraten. Es will einfach nicht mehr „klappen“. Meist bringt das unterschiedliche Interesse am Sex das Paar in endlose Diskussionen oder lähmendes Schweigen und Hilflosigkeit. Eine sich gegenseitig verstärkende Dynamik entsteht, die das Paar vor echte Probleme stellt. Genau diese Dynamik möchte ich näher betrachten. Wenn ich im Folgenden von Frau und Mann rede, dann sind damit nur jene gemeint, die in dieser Dynamik stecken.
swissmom: Wie verändert sich die Sexualität mit der Geburt eines Kindes?
Kristina Pfister: Die Innigkeit einer Paarbeziehung ist bei der Geburt des ersten Kindes am höchsten. Auch in der Sexualität gibt es den Aspekt der Innigkeit. Doch bei vielen Paaren geht die Innigkeit in der Sexualität verloren. Für die meisten Frauen tritt in der Kleinkindphase das Sexuelle, Erotische und Lustvolle in den Hintergrund. Sie zieht sich zurück, weicht aus und vertröstet sich und ihn auf den Zeitpunkt X, der je länger je mehr am Horizont verschwindet. Beide schmusen mit dem Kind, welches mittlerweile vielleicht schon 2 Jahre alt ist, aber das sinnlich-erotische der Paarbeziehung bleibt auf der Strecke. Der Mann – zunächst verständig – fühlt sich je länger je mehr abgelehnt. Er gerät in Selbstzweifel, denkt, mit ihm stimmt etwas nicht und schwankt zwischen Hoffnung und Gereiztheit und Ratlosigkeit.
swissmom: Welche Chancen hat Mann in einer solchen Situation? Kann er das Geschehen positiv beeinflussen und sich gleichzeitig als sexuelles männliches Wesen fühlen?
Kristina Pfister: Ja, er kann. Erstens mit Verständnis und zweitens, indem er sich an ein neues Kapitel der Sexualität wagt. Mann muss wissen: Das Nein der Frau gilt nicht ihm. Es entsteht aus der Überforderung, weil sie gerade nicht nein sagen kann. Klingt paradox.
swissmom: Können Sie die Veränderungen im Frauenleben beschreiben? Hilfreich wäre es für den Mann zu wissen, was Frauen gefühlsmässig nach der Geburt eines Kindes erleben. Können Sie aus Ihrer Erfahrung in der Praxis berichten?
Kristina Pfister: Die Frau lebt in einem grossen Zwiespalt. Ideal und Realität klaffen extrem weit auseinander. Sie würde so gerne das sexuelle Begehren haben. So wie früher, so wie „die anderen“. Sie wäre sogar bereit, ein Medikament wie Viagra für die Frau zu schlucken, nur um diesem Defizitgefühl zu entgehen. Ihre Realität ist, dass sie meist das Gegenteil von Bedürfnis, Begehren, Lust bei sich wahrnimmt, nämlich Abwehr, Verteidigung, Schutzverhalten. Die Frau leidet unter diesem inneren Spannungszustand. Zwar hätte sie sehr wohl das Bedürfnis nach Nähe, nach Umarmungen und Kuscheln, aber weil ihre Erfahrung ihr sagt, dass Kuscheln und Geschlechtsverkehr nur im Doppelpack zu haben sind, und ihr die sexuelle Selbstsicherheit fehlt, im Kuschel-/Liebesspiel nur so weit zu gehen, wie es für sie stimmt, sagt sie zum ganzen Paket nein.
swissmom: Das „nein“ der Frau schmerzt den Mann, er empfindet dies als Zurückweisung. Können Sie die männlichen Gefühle beschreiben?
Kristina Pfister: Er ist einer Reihe unangenehmer Gefühle ausgesetzt. Was geschieht, wenn Mann einen Korb erhält? Das allererste Gefühl ist Enttäuschung und Trauer, gefolgt von einem Zustand der Angst mit Zukunftsbezug (z.B.: Die Paarsexualität wird verloren gehen) und eine Angst mit Gegenwartsbezug (z.B.: Wenn ich ein besserer Mann wäre, würde sie mich nicht abweisen). Daraus entstehen dann Wut, Trotz, Rückzug und eventuell der Wunsch nach Vergeltung. Das ist ein ganz normaler Vorgang, der zum Menschsein gehört und einige Minuten anhält. Aber dies ist nicht das Problem. Das Problem ist, in diesem Zustand über Stunden und Tage hängen zu bleiben und sich selber in dieser Sauce zu marinieren. Man befördert sich selber ins Aus und fühlt sich isoliert und abgeschnitten und in ohnmächtiger Warteposition. Dadurch verliert der Mann an Ausstrahlung und Anziehungskraft und sorgt so unbewusst dafür, den Teufelskreis des Paares zu fördern. Das Gefühl, ein Recht auf Sex zu haben, führt zu einer Erwartungs- oder Forderungshaltung. Wenn er mit dieser bedürftigen Haltung auf die Frau zugeht, wehrt sie erst recht ab, – zum Beispiel mit „Nicht auch noch du!“ – weil sie mit den bedürftigen Kindern ja schon bis an ihre Grenzen belastet ist.
swissmom: Wie kann der Mann diese Zurückweisung in eine positive Energie umwandeln und so die Sexualität in der Paarbeziehung sanft beeinflussen?
Kristina Pfister: Männer, die diese bedürftige Haltung verlassen und vom Bettler wieder zum König werden, durchbrechen so den Teufelskreis. Der Mann muss wissen, dass er eine Wahl hat. Neben diesem Gefühlszustand der Bedürftigkeit, „Ohne dich fehlt mir ganz viel“, besitzt er immer auch den Gegenpol der Fülle, Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Stärke in sich. Und Charme! Charme kommt immer aus der Fülle, nicht aus dem Mangel. Indem sich der Mann wieder auf seinen Charme, seinen König und seine phallische Ganzheit besinnt, hat er gute Chancen, das Nein …der Frau – wenn auch langsam – zu einem Ja zu wenden.
swissmom: Können Sie dies konkret beschreiben?
Kristina Pfister: Die Frau immer wieder zum Liebesspiel einladen, sie verwöhnen, sie nähren, sie lieben und dabei vorerst den Wunsch nach Penetration radikal fallen lassen. Er sollte jeder Versuchung widerstehen, etwas von ihr „zu wollen“ und – das ist ganz wichtig – sich dennoch phallisch, ganz Mann und königlich zu fühlen. Der Penis muss bei diesem Liebesspiel ohne Vereinigung ja nicht darben. Es sind genug Hände da, ihn ebenfalls zu verwöhnen. Wenn das aus irgendeinem Grund nicht gewollt wird und der Drang nach Entladung zu gross ist: vorher eine selbstbewusste Solo-Sex-Nummer einlegen – vielleicht mag die Frau ja dabei zusehen. Machen Sie diese „Kur“ drei Monate lang. Auf diese Weise holt der Mann mit grosser Wahrscheinlichkeit die Frau wieder zurück ins Bett. Das Bett wird nicht gemieden, die Intimität bleibt lebendig und ist so die allerbeste Voraussetzung für die Frau sexuell auch wirklich aufmachen zu können und den Mann wieder zu begehren. Das neue Kapitel, das der Mann auf diese Weise finden kann, ist das „Entstehenlassende“, das „Verweilende“ in der Sexualität. Denn das Strebende, Ziel-/Orgasmusorientierte ist nur ein Teil der sexuellen Art der Begegnung. Das Innige einer Paarbeziehung bekommt durch absichtsloses körperliches Lieben viel Nahrung.
swissmom: Wie verändern sich Männer, die Väter geworden sind?
Kristina Pfister: Viele Väter sind durch das Zusammensein mit Babys und Kindern so tief in ihrem Herzen berührt, dass sich ihnen quasi geschenkt neue innere Welten auftun. Die Fähigkeit, sich wirklich berühren zu lassen, fliesst dann eben auch in die Sexualität mit ein. In diesem Sinne erweitern Kinder das Verständnis von Sexualität und Liebe.
swissmom: Können Sie Paaren, die auf das freudige Ereignis, die Geburt ihres Kindes, noch warten, einen hilfreichen Tipp geben, wie die Paarbeziehung von Geburt an einfühlsam gestaltet werden kann?
Kristina Pfister: Es gibt ein sehr schönes Ritual, das Paare einige Wochen nach der Geburt eines Kindes machen können. Dieses Ritual ist wie das Amen des Zeugungsaktes, wie ein Schliessen des Kreises, der mit der Zeugung begonnen hat. Das Paar vereinigt sich und lässt alles „sexige“ dabei weg. Erregung und Lust werden bewusst vermieden oder klein gehalten. Das ist etwas sehr Ungewohntes und vielleicht gerade deshalb immens berührend, weil die Stille der Schossverbindung die Herzverbindung bewusster macht. Hier eine kurze Beschreibung des Rituals: Es beginnt, indem sich beide im Bett gegenüber sitzen oder liegen und Augenkontakt halten oder auf sonst eine Weise zu innerer Ruhe kommen. Durch Zärtlichkeiten und Umarmungen eine Atmosphäre von Nähe und Vertrauen schaffen, sodass sich beide weich und offen fühlen. Den Scheideneingang befeuchten oder einölen und den Penis langsam und behutsam in die Vagina einführen. In dieser bewegungslosen Vereinigung verweilen und Augenkontakt halten. Sinnbildlich das Neugeborene in die Mitte nehmen und den Weg von der Zeugung bis zum Jetzt nachspüren. Es ist wie ein Gebet, um der Schöpfung für dieses Wunder zu danken. Auch der Dank der Frau an den Mann und der Dank des Mannes an die Frau kann ausgesprochen werden. Dann löst sich das Paar wieder.
Siehe auch swissmom.ch