Die Logik der Unlust:
Wir gehen von falschen Massstäben aus.
(10 Minuten Lesezeit)
Liebe Frau
Ich möchte Sie mitnehmen auf eine gedankliche Reise. Seit vielen Jahren forsche ich zum Thema der sogenannten «Sexuellen Lustlosigkeit bei Frauen» und habe erkannt, dass «Keine-Lust» logisch und goldrichtig ist.
Was ist die Ausgangslage? Jede Frau beschreibt ein etwas anderes Bild ihrer „Lustlosigkeit“ – es fällt aber auf, dass sehr oft das Gefühl der Unzulänglichkeit mitschwingt. Mit mir stimmt etwas nicht. Ich bin falsch, nicht normal.
Laut einer Untersuchung haben 63% der jungen Frauen das Gefühl, beim Sex «performen» zu müssen, z. B. mit lautem Stöhnen, besonders verführerischem Augenkontakt oder einem stark durchgedrückten Rücken.
Es stellt sich also die Frage: Wie kommen Frauen überhaupt auf solche Gedanken, auf ein solches Verhalten? Dies geschieht vor allem, wenn man sich an einem bestimmten Bild, einem Massstab, einer Latte, einer Grösse, einem Standard misst und das Gefühl hat, dem entsprechen zu müssen. Oder es sind die Erwartungen der anderen, dass ich dem entsprechen sollte bzw. müsste.
Anstatt sich selbst falsch und unzulänglich zu fühlen, darf man kritisch hinterfragen, was an dem Bild, dem Massstab, an dem man sich misst, falsch und fehlerhaft ist.
Kann es sein, dass etwas Grosses und Wesentliches fehlt?
Dass zum vollständigen Bild von Sexualität auch die eher weiblichen Seiten wie Zeit haben, Sinnlichkeit, Nähe, Liebe, Zuneigung, Innigkeit gehören, ist bekannt. Es muss aber um etwas Tieferliegendes, Grundsätzlicheres gehen, was offenbar vergessen ging oder übersehen wurde und zu einem falschen Massstab geführt hat.
Es muss einen logischen und nachvollziehbaren Grund geben, warum es beim Thema «Sexuelle Zufriedenheit» bei Frauen so hohe Unzufriedenheitswerte gibt (bei statistischen Untersuchungen immer deutlich höher als die der Männer.) Und warum so viele Frauen beim Thema Sexualität mit Unlust reagieren und denken, sie seien nicht normal. Nach 20-jähriger Tätigkeit als Sexualtherapeutin mit Spezialgebiet «Sexuelle Unlust» kann ich Ihnen mit Gewissheit sagen, dass die betroffenen Frauen weder falsch noch blockiert noch unzulänglich sind.
Fragen wir uns also: Was haben wir für ein Bild von Sexualität? Sexualität in einem engeren Sinne ist «alles zwischen dem Beginn und dem Ende der Erregung». Im Zentrum der Sexualität steht also die Erregung, die Lust. Bildlich gesprochen könnte man sagen:
König Erregung steht im Mittelpunkt.
Könnte es nun sein, dass es neben diesem König auch eine Königin gibt, die aber im jetzt noch vorherrschenden Bild von Sexualität mehr oder weniger ignoriert wird? Dass es auf der Ebene Lust und Erregung noch eine zweite gleich grosse Genusskraft gibt? Eine, die wir übersehen?
Das ist ja fast nicht möglich, denken Sie jetzt vielleicht, dass man ausgerechnet in Bezug auf die uns allen vertraute LUST einen kapitalen Teil übersieht oder zumindest nicht erkennt, welche grosse Bedeutung die «Königinnen-Lust» für unsere sexuelle Zufriedenheit hat.
Doch, es ist möglich, wie das Beispiel Klitoris eindrücklich zeigt. – ! Bis in die heutige Zeit hinein ging der innenliegende weitaus grössere Teil des Klitoris-Organs – einem wesentlichen Sexualorgan der Frau – in den Anatomiebüchern vergessen. Was ich damit sagen will: Selbst wichtige Aspekte können übersehen oder ignoriert werden. Und so geschah und geschieht es mit jenem Teil der Lust, für die im obigen Sinne die Königin steht. Meine Forschungen und Erkenntnisse lassen keinen anderen Schluss zu.
Würden Sie mir bis hierher folgen?
Gehen wir davon aus, dass Sie mit Ihrer jetzigen «Keine-Lust» nicht daneben, sondern im Gegenteil goldrichtig sind. Und dass nichts an Ihnen falsch ist und es geradezu logisch ist, dass Sie genau so reagieren, wie Sie reagieren, dass «Keine-Lust» einen Sinn hat, sogar einen sehr grossen. Dann liegt doch der Schluss nahe, dass das Symptom Unlust auf einen Fehler im System Sex hinweist – und eben nicht als von Ihnen «verschuldet» ist.
Konnte ich Sie ein bisschen neugierig machen auf eine «andere Lust» – eine, die anders ist als jene, die Sie glauben haben zu müssen und die Sie auch nicht in Stress bringt?
Dann gehen wir jetzt tiefer … tiefer in die Innenwahrnehmung, auf die Ebene der Empfindungen.
Auf der Empfindungsebene entscheidet sich, ob einen die Sexualität auf Dauer interessiert oder nicht.
Wenn Sie in entspannter Atmosphäre angenehm berührt werden (ich rede noch nicht von sexuell intendierter Berührung), was ist das für eine Empfindung? Sind da Empfindungen der Entspannung, des Wohlseins, des Loslassens? Gab es auch schon Momente, die sich nach Dahinfliessen oder Weich-/Weitwerden angefühlt haben – oder nach Aufgehen oder Sich-treiben-lassen oder So-könnte-es-ewig-weitergehen? Wenn ja, dann sind wir schon mittendrin in dieser «anderen Genusskraft».
Im weitesten Sinne könnten wir sagen: In schönen Körpergefühlen kann man schwelgen und baden (und lange verweilen). Richtig? Wohl gemerkt: Ich rede immer noch nicht von sexuell gefärbten Empfindungen! Und trotzdem reden wir von grossem körperlichem Genuss. Ein Genuss, der gut tut und nährt und zufrieden macht. Richtig?
Der Charakter dieser Genusskraft ist «verweilend, (tief) nährend und wohltuend». Sie folgt dem Prinzip der Ausdehnung, der Entspannung und wird als angenehm empfunden.
Gab es schon Momente, wo diese verweilende Genusskraft auch fühlbar war, wenn intime Zonen absichtslos, liebevoll und zart berührt wurden? Wenn man «sexuell» ins entspannte Fliessen, ins Weichwerden und Schmelzen, ins Aufgehen/Blühen kommt? Dies als solches zu geniessen, tut gut, nährt und macht zufrieden. Merken Sie, auf was ich hinauswill? Diese verweilende, «unaufgeregte» Genusskraft hat genug Potenzial, um Ihre körperlich-intime Begegnung zu einem wunderschönen Erlebnis zu machen. Mehr braucht es eigentlich nicht. Sie wären mit der Königinnen-Genusskraft vollauf zufrieden, ohne mehr zu brauchen. Ich sage das ein wenig provozierend – denn Sie werden vielleicht einwenden: Ja, aber da fehlt doch was! König Erregung! Wirklich? Nicht unbedingt – was soll da in Wirklichkeit fehlen? Es lohnt sich, mal darüber nachzudenken. 🙂
Wie ist das Erleben bei König Erregung?
Wenn Sie mitten in der Erregung sind, welche Empfindungen können Sie dann wahrnehmen? Hier einige Vorschläge: von etwas erfasst werden, das uns irgendwohin zieht; voller Begehren sein; so verheissungsvoll, dass man mehr davon will; zielgerichtet; Sog in Richtung Orgasmus, lockend, aktiv, strebend, aufsuchend.
Der Charakter dieser Genusskraft ist «strebend, entgrenzend und lockend». Sie folgt dem Prinzip der Anziehung. Spannung wird als angenehm erlebt.
Erregung ist eine tolle und intensive Kraft. Aber sie bedeutet für viele auch Stress und Abhängigkeit, denn Erregung ist nicht auf Knopfdruck herstellbar.
Was kann man erkennen? Die beiden Genusskräfte haben sehr verschiedene Wirkungen auf uns. Man könnte sagen, sie sind entgegengesetzt. Oft nehmen wir die beiden nicht getrennt voneinander wahr. Und doch: Wir spüren genau, wenn das Begehren uns erfasst, und wir spüren ebenso genau, wenn wir aus Seligkeit bzw. Sinnlichkeit ein hohes Wohlgefühl haben und schmelzen und dahinfliessen. Wir können den Unterschied genau spüren.
Wie nennen wir nun die beiden Genusskräfte?
Wie man sie nennt, ist im Prinzip egal. Wichtig ist, dass man einen Namen dafür hat, um sie im Bewusstsein zu haben. Ich sprach bisher von König und Königin. Man könnte auch Lust X und Lust Y sagen oder Lust Rot und Lust Blau. Oder «begehrliche Lust» und «sinnliche Lust». Weil es bei den beiden Kräften letztlich um ein sich ergänzendes und gleichzeitig gegensätzliches Prinzipienpaar handelt, verwende ich in meiner Arbeit die Begriffe Eros und Agape, zwei Begriffe aus dem Altgriechischen.
Warum lege ich nun so viel Wert auf diese Unterscheidung, auf dieses «Zerlegen der Lust»?
Damit Sie wissen, auf was Sie in Zukunft achten müssen!
Wenn diese beiden Kräfte oder Empfindungsqualitäten im sinnlich-sexuellen Tun nicht im Gleichgewicht sind – im persönlichen individuellen Gleichgewicht –, dann verlieren wir (auf Dauer) unser Interesse an Sexualität und Intimität.
Der eigentliche Clou und der Nutzen der Unterscheidung in König und Königin bzw. in Eros und Agape ist das Verständnis, dass beides völlig normal ist. Denn: Die einen von uns fühlen sich mehr in der «Eros-Lust» wohl und würden diese als ihre Natur, ihre «Normalität» bezeichnen. Die anderen von uns fühlen sich in der Agape-Lust wohl und würden diese als ihre Natur und ihre «Normalität» bezeichnen.
Wo würden Sie sich zuordnen?
Und was schätzen Sie, wieviel Frauen eher auf der Seite von Agape und Sinnlichkeit zuhause sind? Meiner Schätzung nach dürften es circa 40% sein.
Können Sie nun erkennen, dass es ein ganz anderes Bild ergibt, wenn man die Lust differenziert betrachtet? Dann gilt eben nicht mehr König Eros mit seiner leichten Entflammbarkeit, seinem nahezu Allzeit-bereit-sein und seinem Befriedigungsbedürfnis als Massstab, an dem sich alles misst. Logisch, dass sich Gefühle der Unzulänglichkeit ergeben können, wenn man selbst diese leichte Entflammbarkeit nicht im Angebot hat. Logisch, dass man dann das Gefühl hat, nicht «normal» zu sein. Übrigens: Die Lust in der Zeit der Verliebtheit sollte nicht als Massstab herangezogen werden, das ist eine vorübergehende Ausnahmezeit.
Man hat zwar schon lange auch von «weiblicher Lust» gesprochen und dass diese mehr kontextabhängig sei. Allerdings ist diese immer geschlechtsabhängig, also rein weiblich verstanden worden. Ich möchte eine andere, umfassendere Sichtweise vermitteln:
Unabhängig vom Geschlecht sollten Eros (= begehrliche Lust) und Agape (= sinnliche Lust) als Gegenspieler erkannt und in ein Gleichwertigkeit gebracht werden. Das beendet quasi die «Vorherrschaft» von Eros. Man braucht dafür auch kein kompliziertes Konstrukt, denn jede und jeder kann für sich selbst unterscheiden, ob er oder sie im strebenden oder im verweilenden Modus ist. Einfacher geht’s nicht!
Können Sie nun sehen, dass es nicht an Ihnen liegt, wenn Sie sich als vermeintlich lustlos empfinden, sondern am falschen Massstab?
Ich möchte Sie dazu ermutigen zu überprüfen, inwieweit meine Unterscheidung für Sie zutrifft. Sie können sich fragen: Gibt es bei mir diese «anderen» Empfindungen (verweilen, weichwerden, fliessen) auf der Seite von Königin, sinnlicher Lust, Agape? Und weiter: Wenn ja, wie viel bedeuten sie mir? Wie wichtig sind sie für mein Wohlsein und Ihre meine Zufriedenheit? Hat es diese Genusskraft, haben es diese Empfindungsqualitäten verdient, neben König Erregung ins Zentrum sexueller Wonne gestellt zu werden? Wäre es für mich wichtig, dass sie als gleichwertige Gegenspieler erkannt, beachtet und gewürdigt werden?
Wenn das alles für Sie zutrifft – dann wäre der Weg frei, die nagenden Unzulänglichkeitsgefühle loszulassen.
Sie müssten nicht mehr die begehrliche Eros-Lust als Massstab für «Lust» akzeptieren. Das Begehren, die Erregung verhält sich wie ein «Feuerzeug» – leicht entflammbar. Die Agape-Sinnlichkeit verhält sich dagegen wie ein «Samenkorn» – eine grundsätzlich andere Ausgangsposition. (Siehe unter Modell Eros & Agape > Fragen zu den Lust-Typen)
Wir! dürfen die Königinnen-Lust nicht länger übersehen und unter den Tisch fallen lassen!
Wir sind es, die der Königinnen-Lust ihren Wert und ihre Achtung schenken. Es gibt keinen Grund, die begehrliche Lust höher zu bewerten als die «sinnlich-wohlig-fliessende Lust». Nur wir können die Tür in das riesengrosse Potential hinter dem Samenkorn öffnen. Nur wir können uns eine Sexualität erschaffen, die es wert ist, gewollt zu werden. Einfach wird dieser Weg allerdings nicht sein, weil wir gewissermassen in eine Eros-Einseitigkeit hineingeboren wurden und dies zu unserer Prägung wurde.
Vielleicht haben Sie bereits angefangen, sich Zeit zu nehmen, um der Sinnlichkeit viel Platz zu geben, auf absichtslose (nicht stimulierende!) Berührung zu achten usw. Nun geht es weiter, indem Sie ganz bewusst alles entspannte, alles Sein, alles Wohlige, alles Feine und Stille in Ihnen freilegen. Und dabei die begehrliche Lust bewusst beiseitelassen und auch nicht auf die Suche nach ihr gehen, da sich die andere Genusskraft, welche aus dem „Samenkorn“ kommt, sonst nicht zeigen und entfalten kann. Gestalten Sie das intime Setting so, dass genug Raum für Ihre innere Ausdehnung ist.
Im Grunde hat das Ganze ein Ausmass, das als eine «zweite sexuelle Revolution“ darstellt: diesmal eine, die nicht im Aussen, sondern in uns verläuft. Und bei der nicht pauschal die Gesellschaft oder der Mann verantwortlich gemacht werden. Jetzt geht es um die Themen Selbstbezug, Selbstverantwortung und Selbstermächtigung. Eine Revolution, die etwas in Ihnen umkrempelt, so dass Sie sich neu besinnen können, wer Sie in Ihrer Einzigartigkeit eigentlich sind.
Das Modell «Eros & Agape» ist dafür ein geeignetes Lust-Modell – griffig und differenziert –, mit dem sich jene Frau verstanden und abgeholt fühlt, die ihrer Natur nach viel mehr in der agapischen Empfindungswelt aufgeht und dort auch tief genährt wird. Sie wird nicht mehr mit dem Eros-Lust-Massstab gemessen, der nur einen Schluss zulässt: Deine Lust ist defizitär, sie genügt nicht. Es liegt eine Störung vor. Eine Therapie ist nötig, um dich wieder auf (Eros-)Kurs zu bringen.
Lust ohne Ende – aber anders?
Könnte ein folgender Wandel für Sie aussichtsreich sein?
Statt: Ich habe keine Lust auf Sex:
«Lust auf meinen Sex (viel Agape-Genusskraft) habe ich ohne Ende. Lust auf Eros-Stress habe ich keine (mehr).»
Oder differenziert formuliert:
«Lust auf meinen Sex (meine Form der Intimität) habe ich ohne Ende. Lust auf den durch meine Prägung übernommenen Sex oder auf jenen Sex, der mir in der Regel angeboten wird, habe ich keine (mehr).»
Doch wie umsetzen?
Das Samenkorn existiert und sobald es regnet, geht es auf. Genauso kann man Agape-Lust verstehen. Es ist wirklich so simpel. Wir haben es alle in uns und können es frei legen. Das Wohlsein beim Streicheln kennt jede. Und nun darf die liebkosende, achtsame und raumgebende, stille Berührung nur noch in den Intimbereich übergeleitet werden. Oder Sie vereinigen sich still und der «Langen Weile lauschend». Und ohne jegliche Erwartung!
Wie weiter?
Das hier Beschriebene ist natürlich nur ein kurzer Einblick in das Modell «Eros & Agape». Es gibt zu diesem Wandel beziehungsweise zu dieser neuen Sicht auf Lust und Sexualität einiges mehr zu sagen, als es hier möglich ist. Möglicherweise dachten Sie beim Lesen des Öfteren: Ja, aber …? Und blieben ohne Antwort. An dieser Stelle wollte ich Ihnen zunächst einfach deutlich machen, dass Ihre «Keine-Lust» und die damit verbundenen Unzulänglichkeitsgefühle durch einen falschen Massstab erzeugt werden – und dass Sie Ihre Perspektive darauf verändern können und dürfen!
Ein Buchprojekt dazu ist deshalb in Arbeit. Falls Ihrerseits Interesse besteht, über das Erscheinungsdatum informiert zu werden, können Sie mir das gerne in einem E-Mail an k@kristina-pfister.ch mitteilen.
Copyright Kristina Pfister (entnommen und weiterentwickelt vom Begleitbuch der SexKiste der Liebe von Kristina Pfister und Claude Jaermann, Verlag Hirschi & Troxler, Zürich, 2008)