Modell Eros & Agape

Am Beispiel von „Lust“ und „Keine-Lust“

Lust ist ein grossartiges Phänomen: sowohl die Lust auf Sex(das sexuelle Begehren), als auch die Lust beim Sex (die körperliche und emotionale Erfahrung) und die Lust als Energie, die man auslösen, steigern, ausdehnen, halten und frei geben kann, gehören dazu. Eine unglaubliche Komplexität. Und gerade weil Lust ein so großes Thema ist, lohnt es sich auch, Keine-Lust differenzierter anzuschauen.

Keine-Lust ist ebenso vielschichtig und vielfältig. Keine-Lust kann entstehen durch Erwartungen, Druck, Überforderung, Stress, Versagensängste, Selbstablehnung, mangelnde Abgrenzung, hormonelle Veränderungen, Krankheit, Medikamente … Die Lust kann sich auch zurückziehen, wenn die Beziehung fremd und kühl geworden ist, und selbstverständlich, wenn das sexuelle Erleben unbefriedigend ist.

Doch selbst wenn die Lust nicht durch diese Parameter beeinflusst wird und Sexualität und Beziehung grundsätzlich befriedigend sind, zeigt sich Lust oft nicht in ihrer aktiven Form. Von Natur aus sind wir sexuell erregungsfähig. Es wäre jedoch falsch zu denken, dass auch der Impuls, sexuell werden zu wollen, natürlicherweise und selbstverständlich vorhanden ist, wie das die meisten von uns aus der Verliebtheit kennen. Hier gibt es große Unterschiede. Der Grad der sexuellen Entflammbarkeit und des Begehrens ist bei jedem Menschen verschieden, und er kann sich je nach Umständen auch immer wieder verändern. Die einen fühlen dieses Begehren mehr auf der sexuellen Ebene, die anderen eher auf der emotionalen und sinnlichen Ebene. Während die einen bereits beim Gedanken an Sex erotisch beflügelt werden, kommen die anderen erst in die Lust, wenn sie und ihr Inneres in einer entspannten, sinnlichen Atmosphäre aufgehen und blühen dürfen. Wie eine verschlossene Knospe, die bei passendem Klima von allein aufgeht. Unsere Lust reagiert also nicht nur auf Sinnesreize, sondern ebenso auf die Atmosphäre, die Stimmung. Oft schafft erst die richtige Atmosphäre die Voraussetzung dafür, dass Sinnesreize „ankommen“und als lustvoll wahrgenommen werden.

Eros und Agape

Um das sinnliche und das sexuelle Begehren und seine Vielschichtigkeit besser zu verstehen, unterscheide ich zwischen zwei verschiedenen Lust-Typen: dem Lust-Typ Eros und dem Lust-Typ Agape. Eros und Agape bezeichnen im Griechischen zwei Aspekte der Liebe. Ich verwende hier Eros als die aktive und zielgerichtete Kraft der Liebe und Agape als die hingebungsvolle und empfangende Kraft der Liebe. Beide Lusttypen sind gleichwertig und wirken in jedem von uns mal mehr, mal weniger.

Lust-Typ Eros

Als typischer Eros bin ich startbereit, um auf äußere Reize zu reagieren. Lust-Typ Eros will beglücken, erobern und ist zielgerichtet. Bildlich gesprochen bin ich im Stand-by-Modus oder reagiere wie ein Feuerzeug. Bei den „richtigen“ Sinnesreizen bin ich präsent und schnell Feuer und Flamme. Das Interesse an Sex ist latent vorhanden. Lust-Typ Eros denkt: „Ich brauche Sex. Ohne Sex kann ich nicht leben.“ Während des Liebesspiels ist er auf das Kommende ausgerichtet. Die erotische Kraft will ans Ziel, ins Endliche. Im Moment zu verweilen, fällt ihr eher schwer.

Lust-Typ Agape

Als typische Agape liebe ich Nähe und Sinnlichkeit – erwartungsfrei, verspielt. Bildlich gesprochen reagiere ich wie ein Samenkorn. In der „richtigen“ Atmosphäre werde ich weich und öffne mich und meinen intimen Raum. Erst dann fühle ich Bereitschaft zum „Blühen“. Dabei mache ich immer wieder eine Wandlung durch von einem Empfindungszustand in den anderen und wieder zurück. Im Zustand der Blüte denke ich „Es ist so schön, warum will ich das nicht öfter?“ Im Zustand des Samenkorns denke ich: „Ich brauche es nicht“. Typ Agape liebt im Liebesspiel die Tiefe, die Ausdehnung, das Verweilen. Agape zeigt wenig sexuelle Initiative, ist manchmal himmlisch faul, ein Spätzünder und auch schon mal ein Nichtzünder.

Wichtig: Wir sind nie nur Eros oder nur Agape. Wir vereinen beide Aspekte in uns, und je nach Lebensphase wirkt der eine stärker als der andere. In der Verliebtheit wirken beide etwa gleich stark. Erst später zeigen sich Eigenheiten und Unterschiede.

Probleme deuten meist auf ein „Nicht im Gleichgewicht sein“ mit den Genuss-Kräften von Eros und Agape hin. Bei einem gesellschaftlichen Umfeld, das 90 % auf Eros abzielt und zu 90% Eros bedient – also eine grosse Dysbalance aufweist –, ist es kein Wunder, dass man sich mit einer stimmigen Balance und Gleichwertigkeit schwer tut. Und dass wir oft so weit weg von sexueller Zufriedenheit sind (mehr dazu siehe Spezialthema Unlust).

Um sich der beiden Lust-Typen noch bewusster zu werden, lohnt es sich, die nachstehenden Fragen für sich durchzugehen. Sie helfen, sich selber und den Partner, die Partnerin noch besser zu verstehen und vor allem, mit Unterschieden liebevoller und verständnisvoller umzugehen.

Fragen an den Lust-Typ Eros

• Wie kann ich selbstbewusst zu mir stehen und meinen Eros als Qualität sehen?

• Was brauche ich, um mir meiner sexuellen Qualitäten (hohe Entflammbarkeit, Dynamik, Streben nach Fülle, Neugierde) noch stärker bewusst zu werden?

• Was braucht mein Eros, um in seinem Feuer zu bleiben und gleichzeitig das Gegenüber nicht zu überfordern?

• Was brauche ich, um mich dem Agape-Typ gleichwertig zu fühlen?

• Wie kann ich mich in meine Leidenschaft hinein entspannen, den Eros beruhigen und so Platz für das Genussvolle der Agape-Energie schaffen?

• Wie gelassen gehe ich damit um, wenn der Wandel von überflutender, drängender Leidenschaft in bewusstes Genießen nicht gelingt? Welche Unterstützung brauche ich von meiner Partnerin, meinem Partner?

• Wie oft empfinde ich mich als Eros-Typ gebremst, abgelehnt und nicht verstanden? Wie reagiere ich?

• Welche Worte, welche Handlungen würden mir helfen, um mich nicht abgelehnt zu fühlen?

• Welche Arten der Berührung sind für mich ideal? Wie beherzt setze ich mich dafür ein?

• Wie gelingt es mir, die belebende Kraft meiner Lust einfach für mich zu genießen, ohne dabei in eine bedürftige Haltung/Rolle zu fallen?

Fragen an den Lust-Typ Agape

• Wie kann ich selbstbewusst zu mir stehen und meine Agape als Qualität sehen?

• Was brauche ich, um mir meiner sexuellen Qualitäten (Unabhängigkeit, Sinnlichkeit, Sensibilität, Hingabe an den Moment, Tiefe) noch stärker bewusst zu werden?

• Welche Annahmen, Ansprüche und Erwartungen (z.B. bezüglich Lust, Leidenschaft und sexueller Initiative) begrenzen mich?

• Wie kann ich mich in meinem Selbstwert und „Liebeswert“ unterstützen und mich abgrenzen von Bewertungen (z.B. Nur „Eros-Lust“ ist normal und natürlich. Mit mir stimmt etwas nicht.)?

• Was brauche ich, um mich dem Eros-Typ gleichwertig zu fühlen?

• Wie meistere ich es, im Vorfeld und/oder bei Beginn des Vorspiels ohne sexuelles Begehren zu sein und mich trotzdem auf Intimität einzulassen, um meiner schlafenden Lust die Chance zu geben, sich wachküssen zu lassen?

• Welche Atmosphäre und welche Arten der Berührung sind für mich ideal (z. B. absichtslos liebkosend, hingebungsvoll wahrnehmend)? Wie beherzt setze ich mich dafür ein?

• Wie kann ich beim Liebesspiel die dynamische Eros-Energie in mir wecken?

• Wie gelassen gehe ich damit um, wenn die Verwandlung von schlafender in wache Lust nicht immer gelingt? Welche Unterstützung brauche ich von meiner Partnerin, meinem Partner?

Copyright Kristina Pfister (entnommen und überarbeitet vom Begleitbuch der SexKiste der Liebe von Kristina Pfister und Claude Jaermann, Verlag Hirschi & Troxler, Zürich, 2008)