Wenn der Bettsegen schief hängt

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Migros-Magazin

26. Februar 2007

Wenn die Lust zur Last wird

– Text von Veronica Bonilla Gurzeler

In vielen langjährigen Beziehungen herrscht statt knisternder Erotik sexuelle Lustlosigkeit. Eine Chance für Mann und Frau, Sexualität in einer neuen Dimension erleben zu lernen.

Kennen Sie das? Es ist Abend. Sie sind noch im Bad und putzen sich die Zähne. Gründlich. Und dann noch Zahnseide. Auch gründlich. Der eigentliche Grund ist nicht Ihre gute Zahnhygiene, sondern Zeit zu gewinnen. Sie hoffen, dass ihr Mann, wenn Sie ins Bett kommen, schon schläft. „Genau so ist es mir in den letzten Jahren unzählige Male gegangen“, sagt Monika Gisler, 31. „Richtig Lust auf Sex hatte ich nur in der ersten Verliebtheitsphase unserer Beziehung.“

Seit knapp zehn Jahren sind Monika und Peter Gisler ein Paar. „Wir wussten ziemlich schnell, dass wir zusammen gehören“, sagen beide. Kindern stand deshalb nichts mehr im Wege. Vor acht und vor fünf Jahren kamen ihre zwei Töchter auf die Welt. Und das Glück wäre perfekt gewesen, hätte das Thema Erotik nicht zunehmend Bauchweh gemacht.

„Wir merkten, dass Sex für uns einen unterschiedlichen Stellenwert hat“, so der 49- Jährige. „War er für Monika das Sahnehäubchen, gehörte er für mich zum täglichen Brot.“ Monika: „Eigentlich hätte ich seine Nähe gewollt, aber bei jeder Umarmung fürchtete ich, sein Begehren zu wecken. Ich hatte das Gefühl, dass nur mein Körper gefragt war.“ Und dieser war durch Schwangerschaft, Geburt, Stillen und Rund-um- die-Uhr-Betreuung der kleinen Kinder schon derart beansprucht, dass wenig Kapazität für anderes blieb.

Monika versuchte dies Peter zu erklären. Doch die beiden fanden keine gemeinsame Sprache. Peter: „Ich fühlte mich abgelehnt und in meiner Männlichkeit vollkommen in Frage gestellt – gerade noch toleriert als Geldverdiener, Kindervater und um einmal in der Woche den Kehricht herunterzubringen.“ Die Stimmung bei Gislers war in dieser Zeit häufig angespannt, Streitereien wegen Alltäglichkeiten nahmen zu. Monika: „Ich fühlte mich schuldig und war überzeugt, eine schlechte Ehefrau zu sein, weil ich meinem Mann etwas vorenthielt. Doch obwohl ich keinen Sex haben wollte, wälzte ich das Problem immer in meinem Kopf.“

Vor zweieinhalb Jahren fasste Monika den Entschluss, für die verfahrene Situation aktiv eine Lösung zu suchen. Sie stiess auf das Angebot der Sexualberaterin Kristina Pfister, die speziell zu diesem Thema die Seminare „Liebe ja, Sex nein?“ für Frauen und „Meine Frau hat fast nie Lust auf Sex“ für Männer anbietet. „Für uns war sofort klar, dass wir diesen Rettungsring ergreifen wollten.“

Trotz der allgegenwärtiger Erotik und viel nackter Haut in Kino, Werbung und Medien hängt in zahlreichen Schlafzimmern schnell mal der Bettsegen schief, wenn die Flamme des Begehrens bei Mann und Frau unterschiedlich stark brennt“, weiss Kristina Pfister, Sexualberaterin in Bülach und Winterthur.

Die Mehrzahl der Frauen, die zu ihr in die Praxis kommen, leiden unter geringem sexuellen Appetit. Besonders häufig Mütter mit kleinen Kindern. „Kein Wunder“, findet sie. „Eine Mutter, die den ganzen Tag und oft auch noch in der Nacht für andere sorgt und deren Bedürfnisse befriedigt, muss mit ihren Sinnen pausenlos im Aussen sein. Sexualität ist jedoch Innenwahrnehmung.“

Auch Gene und Hormone spielen mit. In bedeutender Rolle das Bindungshormon Oxytocin, das bei Geburt und Stillen produziert wird, uns also zur Brutpflege animiert. Doch, ob es uns gefällt oder nicht: Oxytocin hemmt auch das Lusthormon Testosteron. Zu Recht, würden wir sonst vielleicht leichtfertig unsere Brut verlassen, um uns hemmungslos ins nächst beste erotische Abenteuer zu stürzen.

So hat sich also seit der Steinzeit genetisch gesehen wenig verändert: Die Frau ist die Hüterin des Lebens. Der Mann will seine Gene möglichst breit streuen. Eine auswegslose Situation? Nein, findet Kristina Pfister. „Wenn wir unsere ureigene Sexualität verstehen und annehmen, können wir lernen, mit ihr umzugehen und finden so den Weg zurück zum Partner.“ Die Expertin in Liebesfragen ist der Ansicht, dass es zwei verschiedene Sexual-Typen gibt: den zarten und den starken Trieb (siehe Box).

Dies zu erkennen, hat Monika und Peter geholfen. „Im Männerseminar habe ich gemerkt: Ich bin nicht allein mit meinem Problem, ich werde verstanden. Das tat unendlich gut“, erzählt Peter. „Kristina hat uns geholfen, uns so zu akzeptieren, wie wir sind, und gleichzeitig das Anderssein der Frau zu akzeptieren. An dem Tag spürte ich erstmals wieder Hoffnung keimen.“

Ähnlich erging es Monika. „Die Schlüsselaussage im Frauenseminar war für mich: Es gibt leicht entflammbare und weniger leicht entflammbare Frauen. In manchen Phasen unseres Lebens sind wir eher das eine, dann wieder das andere. Schuldgefühle deswegen sind nicht angebracht.“

Das Ehepaar ging zusätzlich dreimal zu Kristina Pfister in eine Einzelberatung. Monika lernte, Vertrauen zu finden und Berührung zuzulassen. Peter kann sich besser zurück nehmen. „Ich richte meine Lust nicht mehr nach aussen, sondern nach innen. Wie ein Langstreckenläufer verpuffe ich meine ganze Energie nicht bereits in den ersten Hundert Metern.“ Beide sagen, dass ihr sexuelles Lieben seither an Tiefe, an Genuss gewonnen hat. „Wir sind uns um Welten näher gekommen. Nicht nur körperlich.“

Die zwei verschiedenen Sexual-Typen, bzw. Grundprinzipien:

Das „Agape-Prinzip“ steht für den zarten Trieb – ähnlich einem Samenkorn. Typ Agape entfaltet sich, sobald das Drumherum, die Atmosphäre stimmt. Er ist fein, liebt die Ausdehnung, das Verweilen. Allerdings ist er auch ziemlich faul, wenig initiativ – ein Spätzünder und manchmal ein Nichtzünder.

Das „Eros-Prinzip“ steht für den starken Trieb – ähnlich einem Feuerzeug. Typ Eros ist startfreudig, immer bereit, auf äussere Reize zu reagieren. Er kann abgehen wie eine Rakete, will beglücken, erobern, ist zielorientiert. Er hat aber auch die Tendenz, Dinge links und rechts nicht mehr wahrzunehmen und ist latent suchend, nicht wirklich findend.

Die beiden Prinzipien gehören zusammen und ergänzen sich gegenseitig.

Lust und Liebe – Gedanken und Tipps von Sexualberaterin Kristina Pfister:

Eros ist nicht das Mass. Wenn man verstanden hat, dass die beiden Sexual-Typen ebenbürtig und gleichwertig sind und Lustlosigkeit kein Defizit ist, entspannt sich vieles. Die Frau lehnt sich nicht mehr ab und findet wieder Vertrauen zu sich und ihrer Weiblichkeit. Unrealistische Erwartungen, z.B.: initiativ sein zu müssen, können losgelassen werden. Der Mann weiss um seine himmlisch passive „Agape-Rose“ und kann sie mit wohldosierter Leidenschaft und liebkosenden, absichtslosen Berührungen erwecken.

Liebe ist nicht: Etwas bieten müssen, es recht machen, funktionieren, ein Programm abspulen, etwas machen, um geliebt zu werden oder zu gefallen, Anspruch auf Befriedigung durch den anderen, etwas vorgeben, was nicht ist, Überspielen von Angst und Unsicherheit.

Als Frau kommen Sie nicht darum herum, Ihrem Mann immer wieder beherzt zu erklären, wie er Sie körperlich erreichen kann. Beobachten und erforschen Sie selbst, was Ihr „Samenkorn“ braucht, um sich zu öffnen.

Als Mann möchte ich Sie ermuntern, zu den Tiefen Ihrer Sexualkraft vorzustossen und diese Kraft ausgiebig durch Selbstliebe zu erkunden. Als liebender, genährter und charmanter König können Sie Ihre Frau viel besser erreichen, denn als bedürftig Suchender.

Sexualität ist ein lebenslanger Weg, ein Individualisierungsprozess. Bleiben Sie dran!
Erwarten Sie keine schnelle Lösungen, insbesondere wenn sich bestimmte Muster über Jahre eingeprägt haben.

Freuen Sie sich, wenn Sie unterschiedliche Sexual-Typen sind! So bietet sich Ihnen die Chance, voneinander zu lernen.